Licht an im Merkel-Bunker?
Montag, 29. November 2010

Aktuelle Terrorwarnung gegen Regierungssitz wirft Frage nach Schutzbau auf

Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (im Bild bei einer Pressekonferenz 2009). Sein Ministerium war in der Vergangenheit zuständig für die Funktionsfähigkeit der Bundesorgane in Krise oder Krieg – ist es aber nicht mehr. Andere haben das Kommando übernommen.

Berlin, 17. November 2010, 12 Uhr. Bundesinnenminister Thomas de Maizière gibt eine „Stellungnahme zur aktuellen Gefährdungslage“ in der Bundesrepublik Deutschland ab, die sich aus terroristischen Aktivitäten ergibt. Hinweise auf mögliche Anschläge, so der Minister, gäbe es seit Längerem. Doch nun verdichten sich diese Erkenntnisse zu einer konkreten Spur. Nach wenigen Minuten ist de Maizière fertig. Stunden später wird dann öffentlich, was genau zu erwarten ist. Unter anderem plane ein Terror-Rollkommando die Erstürmung des Reichstages, dem Sitz des Deutschen Bundestages. Wann zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Regierung so gezielt bedroht? Die Situation verändert - natürlich - massiv die Sicherheitslage um den Regierungssitz – außen wie auch innen. Was die Frage nach Schutzräumen einschließt. Das Staatsgeheimnis um den aktuellen Regierungsbunker rückt – ungewollt – ins Rampenlicht.

Viel wurde bereits spekuliert über den Berliner Regierungsbunker. Gibt es ihn überhaupt? Und wenn ja, wo? Und in welcher Größe? Ist er eventuell als Teil einer ganz anderen, größeren Baumaßnahme unter Geheimhaltung „mitgebaut“ worden – beispielsweise unter einem Bahnhof oder im Keller von Regierungsbauten?

Kanzleramt 2009: „Verlagerung in Ausweichsitze“

Bundesinnenminister Dr. Gerhard Schröder (rechts) entwarf vor einem halben Jahrhundert die Grundzüge der Notstandsgesetze, sein Mitarbeiter Walter Bargatzky (links; Abteilungsleiter Ziviler Bevölkerungsschutz) baute der Bundesregierung ableitend aus diesen Gesetzen ihren Bunker im Ahrtal. Der Bunker ist heute weg, die Gesetze aber gelten noch immer.

Das Bundeskanzleramt teilt auf Anfrage der Dokumentationsstätte Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler, am 12. März 2009 dazu mit: „Bundesministerien haben Teilkonzepte zur Verlagerung von ihren wichtigsten Regierungsfunktionen in Ausweichsitze erstellt“. Und weiter erklärt das Bundeskanzleramt, dessen damaliger Chef der gleiche Thomas de Maizière ist, der nun als Innenminister eine klare Terrorwarnung ausspricht: „Die Bundeskanzlerin kann die Koordination bzw. Führung vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung einer eingetretenen Lage übernehmen.“ Was hinter dem Beamtendeutsch steckt: Das Krisenmanagement der Bundesregierung ist im Regelfall fachbezogen organisiert, das zuständige Ressort einem Ministerium unterstellt. Im Extremfall allerdings geht es direkt auf die Bundeskanzlerin über, die dann in die Lage versetzt werden muss, handlungsfähig zu bleiben und das Krisenmanagement zentral zu koordinieren.

Kabinettssaal 115 Meter unter der Erde. Der Regierungsbunker im Ahrtal war als Lösung für den Krisenfall „etwas überdimensioniert, aber grundsätzlich richtig“, machte Bundesinnenminister Prof. Dr. Ernst Benda noch 2008 deutlich.

Das schließt auch bauliche Maßnahmen ein und die Absicherung, über Kommunikationssysteme mit allen wichtigen Bereichen – innerhalb wie auch außerhalb Berlins – in Kontakt zu bleiben.

Wurde also jetzt, während vor dem Reichstag schwer bewaffnete Polizeikräfte eine Bannmeile hüten, hinter verschlossenen Türen der Regierungsbunker bezugsklar gemacht? Denn mit der konkreten Terrorwarnung gegen den Reichstag ist auch klar: Sollte das Gebäude erstürmt werden, käme die Evakuierung der Regierung aus dem Reichstag einem potentiellen Angreifer entgegen. Zumal unbekannt ist, mit welcher Stärke er wo angreift und welches Wissen er um die Infrastruktur hat. Ein Rückzug in Schutzräume direkt aus dem Plenarsaal heraus wäre also die weitaus bessere Lösung.

De Maizière´s Warnung folgte recht schnell die nächste Sitzung des Bundestags. Der parlamentarische Alltag läuft weiter, trotz konkreter Terrorwarnung gegen das höchste Haus der Deutschen. Eine klare Botschaft der Regierung. Was aber, um das Wissen der konkreten Gefahrenlage umso mehr vermuten lässt, dass man entsprechende Schutzräume in kürzester Zeit und direkt aus dem Bundestag unter der nun besucherfreien Kuppel erreichen kann.

Bonn: Regierungsschutzbauten an allen Ecken

Konkretes dazu ist aus den eingeweihten Berliner Kreisen natürlich nicht zu hören. Doch ein Blick nach Bonn verrät einiges über das Schutzraumbedürfnis der deutschen Regierung – zusätzlich zum Regierungsbunker im 30 Kilometer entfernten Ahrtal. So gab und gibt es im 1. Untergeschoss des ausrangierten Bundeskanzleramtes ein ganzes System von Schutzräumen mit insgesamt 600 Quadratmetern Fläche. Neben Schwimmbad, Möbellager oder Postuntersuchung gab es diametral für 500 Personen zehn Schutzräume – sprich: an jeder Ecke des Kellers eine Gruppe. Direkt neben der Hauptzufahrtsrampe und versehen mit einem eigenen Parkplatz samt Vorfahrt waren die Schutzräume mit den Nummern 5 und 6 eingerichtet – logistisch bestens durchorganisiert, denn aus dem verbunkerten Teil des Bundeskanzleramtes ließe sich direkt in ein bereitstehendes Fahrzeug einsteigen und auf kürzestem Weg über die aus dem Kellergeschoss gerade angelegte Ausfahrt das Kanzleramt mit Vollgas verlassen.

Oben Pflanzkübel, unten Gitter um die Luftversorgung des geheimen Schutzraums: Gartengestaltung des Bonner Kanzlerbungalows.

Für alle Fälle war selbst unter dem Kanzlerbungalow – keine 100 Meter vom Kanzleramt entfernt - ein Schutzraum eingerichtet. Beim Blick zurück wird also klar: Dem baulichen Schutz des Bundeskanzlers kam immer eine große Aufmerksamkeit zu, egal wo er sich gerade aufhielt.

Mit Sicherheit wird also auch die aktuelle Bundeskanzlerin nicht im Reichstag bei einer Bundestagsdebatte sitzen und ihre Sicherheit im Angesicht massiver Terrorwarnungen ausschließlich dem Sperrgürtel vor der Tür überlassen.

11. September 2001: Ruf nach einem Regierungsbunker

Veränderte Bedrohungslage: Die Angst vor einem atomaren Weltkrieg sorgte für den Bau des Regierungsbunkers (im Bild die erste Belegung im Rahmen der NATO-Übung Fallex 66). Diese Gefahr schien ab 1997 überwunden, doch ausgerechnet mit Beginn des Abrisses 2001 wurde eine ganz neue Gefahrenlage greifbar – die von Terroranschlägen auf Regierungszentren.

Wie ernst man mit terroristischen Bedrohungen in diesem Zusammenhang umgeht, machen auch die Anschläge des 11. September 2001 deutlich. Nach über 30 Jahren Dauerbetrieb rollten im ausgemusterten Marienthaler Regierungsbunker die Bagger an und gingen an den Abriss des Schutzbaus.

Doch ausgerechnet mit dem ersten Einschlag der Abrissbirne wurde in New York ein völlig neues Kapitel terroristischer Anschläge aufgeschlagen. Das führte zu einer sofortigen Neubewertung der Sicherheitslage auch in Deutschland – eingeschlossen die Frage, wohin die Regierung evakuiert wird, sollte sie Ziel eines terroristischen Anschlages sein.

Eine fatale Sicherheitslücke tat sich auf, denn auf Nachfrage aus dem Bundeskanzleramt (beim Verteidigungsministerium) wurde klar, dass es kein adäquates Schutzbauwerk in Berlin gab. Also wurde die Bauleitung in Marienthal aufgefordert, alle Abrissarbeiten sofort einzustellen, bis man – wenigstens provisorisch – eine Lösung in der neuen Hauptstadt geschaffen hätte.

Vier Wochen später kam die Weisung: Der Ahrtal-Bunker kann weiter abgerissen werden. Schnell war klar: In vier Wochen lässt sich kein Bunker bauen. Ob er in dieser Zeit „fertig gestellt wurde“ oder ein Provisorium eingerichtet, bleibt ein Staatsgeheimnis. Weniger geheim aber ist: Das Bundesinnenministerium hält seit dem 11. September 2001 und den folgenden Anschlägen in Europa an seiner Beurteilung einer Terrorgefahr fest. Die nun so konkret gegen die Bundesregierung ausgesprochen wurde, wie nie zuvor. Immerhin hatte man nach der Neubewertung in Folge der New Yorker Anschläge im zuständigen Bundesinnenministerium neun Jahre Zeit, einen baulichen Schutz für die Bundesregierung umzusetzen.

Der Bereich mit der höchsten Sicherheitsstufe im Regierungsbunker: Das Lagezentrum des Bundesverteidigungsministeriums (1998). Hier sollten die Nachrichten der verbunkerten NATO-Kommandozentralen eingehen, die in abgespeckter Version noch heute existieren.

Eine Verpflichtung dazu liegt für die Bundesrepublik Deutschland ohnehin wegen der NATO-Mitgliedschaft vor. Denn auch, wenn sich auf nationaler Ebene die Sicherheitsbeurteilung nach Ende des Kalten Krieges verändert hat – die NATO als militärische Allianz schreibt ihren Mitgliedsstaaten nach wie vor die Einrichtung sogenannter Kriegshauptquartiere für Regierungen ins Pflichtenheft und betreibt ihre verbunkerten Kommandostellen – wie beispielsweise die Bunkeranlage „Castlegate“ in Linnich – noch immer. Doch das Netzwerk aus verbunkerten Führungsstellen funktioniert nur, wenn die Regierungen der Mitgliedsstaaten ebenfalls in die Lage versetzt werden, unter Vollschutz handlungsfähig zu bleiben.

Deutsche Gesetze regeln die Größe des Regierungsbunkers

Diese Unterbringung dürfte in Deutschland noch immer recht großzügig ausfallen, denn der Artikel 115 des Grundgesetzes regelt einige personalintensive Details für den „V-Fall“ (Verteidigungsfall) – so die Einsetzung des Gemeinsamen Ausschusses. Dem gehören aktuell 48 Mitglieder an, die zusammen mit ihren Stellvertretern als Notparlament geschützt untergebracht werden müssen. Damit ist die Belegungsstärke eines Krisenzentrums für die Regierung aber bereits bei knapp 100 Personen. Ein Blick in die Organigramme der Bundesregierung für Krieg und Krise verrät, dass die Ministerien mit ihren Arbeitsstäben ebenfalls handlungsfähig bleiben müssen. Das letzte Mal, dass alle Nutzer eines Regierungsbunkers ihre Personalstärke an das Bundesinnenministerium meldeten, endete der Zahlenkonvoi bei 2.227 (März 1996). Das war in einer Zeit, als die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung als „unwahrscheinlich“ galt und von Terrorgefahr überhaupt nicht die Rede war. Konsequenterweise hatten die Ministerien ihre krisen- und kriegsrelevanten Personalstärken reduziert, konsequenterweise wurde der Regierungsbunker an der Ahr aufgegeben.

Doch inzwischen hat sich das Lagebild massiv verändert. Konsequenterweise müsste ein Regierungsbunker also nach der sicherheitspolitischen Neubewertung 2001 wieder da sein – und unter Anwendung des Grundgesetzes und nach Auslegung der Antwort aus dem Bundeskanzleramt (März 2009: „Diese Planungen schließen neben einer angemessenen Notfallplanung auch eine Räumung der Bundesministerien und die Wahrnehmung ihrer wichtigen Regierungsfunktionen (...) an einem anderen Standort ein.“) für weit mehr als 1.000 Personen ausgelegt sein.

Sollte es also die aktuelle Berliner Sicherheitslage gebieten, müsste Angela Merkel und mit ihr die Ministerriege evakuiert werden – an einen Ort, den es eigentlich wegen der Geheimhaltung um ihn gar nicht offiziell gibt. Die Tageslage im Reichstag ist also nicht nur wegen der politischen Debatten und der Polizeipräsenz ein spannendes Thema.

Stand November 2010; inhaltlich überprüft und noch immer gültig (März 2015)