"Fallex 62" spielt deutsches Flüchtlingsdrama durch
Samstag, 12. September 2015

NATO-Übung: Grenzen im Westen dicht, Bevölkerung soll im Krieg zuhause bleiben

Saarland (Wadern; im Bild ein Notausgang des Ausweichsitzes) und Rheinland-Pfalz (Burg an der Mosel bei Traben-Trarbach) bereiten sich Anfang der 1960er Jahre frühzeitig mit der Standortwahl ihrer Ausweichsitze entlang der Evakuierungszone auf ein deutsches Hauptproblem im dritten Weltkrieg vor: massive Flüchtlingsbewegungen Richtung Westen.

21. September 1962, 19.10 Uhr: 100.000 deutsche Flüchtlinge überschreiten „ohne den Anordnungen der Bundesregierung in Bonn Folge zu leisten die luxemburgische und französische Grenze“. Es ist der Auftakt einer Massenflucht. Millionen Deutsche strömen Richtung Westen nach dem Ersteinsatz sowjetischer Atomwaffen. Zwischen Maas und Mosel soll eine Auffangzone eingerichtet werden, in der „deutsche Flüchtlinge in geordneten Gruppen und Transporten zusammengefasst werden“, um sie zu evakuieren. Doch dann schließt Frankreich seine Grenzen. Die Flüchtlingssituation gerät völlig außer Kontrolle und die NATO bricht diesen Teil ihrer Übung „Fallex 62“ ab.

Damit beschreibt das westliche Bündnis bereits vor über 50 Jahren ein Problem im Umgang mit größeren Bevölkerungsbewegungen, das auch aktuell deutlich erkennbar ist: nationale Interessen stehen länderübergreifenden Lösungen im Weg. Der Vorschlag damals: Mitgliedsstaaten haben verstärkt die „stay at home“-Politik durchzusetzen – wenn es sein muss, mit Waffengewalt. Flüchtlingsbewegungen sollen im dritten Weltkrieg verhindert werden und die Deutschen schlicht zuhause bleiben.

Hans-Dieter von Boeltzig, bis 1945 Oberst in der Wehrmacht und rechte Hand von General Busse im zivilen Planungsstab des Bundesinnenministeriums vertritt deutsche Interessen bei den Nachbesprechungen zu „Fallex 62“.

Luxemburg am 26. Januar 1963. Vertreter der französischen, deutschen, belgischen und luxemburgischen Regierung tagen und sollen eine Lösung für das Flüchtlingsdrama finden, das sich aufgrund des Planspiels „Fallex 62“ ergeben hat. Mit der „Spiegel“-Veröffentlichung „Bedingt abwehrbereit“ (10. Oktober 1962) sind die Mängel westdeutscher Landesverteidigung öffentlich bekannt und auch wenn der Beitrag nicht detailliert auf die Flüchtlingssituation eingeht: Bundeswehr und Zivilverteidigung sind überhaupt nicht in der Lage, dem angreifenden Ostblock irgendetwas entgegenzustellen, und sei es die kontrollierte Evakuierung der Bevölkerung. Im militärischen und zivilen Bereich kollabiert die Organisation und der deutsche Übungsteilnehmer erhält die schlechteste von vier Benotungen, die sich ein NATO-Teilnehmer abholen kann: „Zur Abwehr bedingt geeignet“.

Nichts geht mehr im Lagezentrum Alzey (Foto im Rahmen der Besichtigung 2012): Die Flüchtlingsströme nach Westen bleiben stecken und Rheinland-Pfalz muss auf wenigen Quadratmetern Regierungsbunker große Probleme lösen, auf die man nicht vorbereitet ist.

Doch im Hintergrund sind die durch das Bündnis erarbeiteten Evakuierungsplanungen für die Zivilbevölkerung mitverantwortlich für das Dilemma zwischen Rhein und Elbe und kein rein deutsches Problem: Nachdem die französischen Grenzkontrollen bei einsetzender Flüchtlingsbewegung überlastet sind, schließt der Nachbarstaat seine Übergänge. Was die Niederlande veranlasst, diesem Beispiel zu folgen. Die neutrale Schweiz spielt in den NATO-Planungen keine Rolle, Österreich wird selbst vom Warschauer Pakt angegriffen. Und so bleibt den Westdeutschen nur noch ein schmaler Flucht-Korridor Richtung Luxemburg und Belgien.

Das ist ein Bruchteil des Grenzverlaufs, der mit den ostfriesischen Inseln im Norden beginnt und hinter Freiburg im Süden endet. Zwischen Aachen und Trier – Luftlinie 120 Kilometer - kann sich nun alles durchquetschen, was noch am Leben und transportfähig ist. Immerhin: Die Deutschen üben selbst dieses Szenario ab dem 21. September 1962 mutig weiter. Bis Frankreich auch die Grenze nach Luxemburg zumacht. Das Ende einer Flucht. Die Deutschen hängen fest.

Was folgt, sind viele Sitzungen und Überlegungen. Die im Rahmen von „Fallex 62“ gewonnenen Erkenntnisse werden als „sehr wertvoll“ beschrieben und nun soll entsprechend ein Gesamtprogramm innerhalb der NATO erarbeitet, sollen Gesetze auf nationaler Ebene überarbeitet, finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Doch die weitere Planung bleibt von nationalen Interessen geprägt und es ergibt sich eine Situation, die fatal an die aktuelle Flüchtlingskoordination innerhalb der EU erinnert.

Problem von damals ist Thema am 1. November in Alzey

Die Problematik um die Bevölkerungsbewegungen der 1960er und 70er Jahre werden seit Jahren bei den Führungen im Ausweichsitz Rheinland-Pfalz in Alzey, der heute ein Museum ist, erläutert. Das Bundesland lag zentral in der Evakuierungszone Richtung Luxemburg. Entsprechend kam der Lenkungsstelle eine Schlüsselrolle zu. Gerade mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingssituation und deren EU-weite Bearbeitung wird auch beim Tag der offenen Bunkertür am 1. November 2015 (10 bis 18 Uhr) das Thema aufgegriffen und über Original-Dokumente der Vergangenheit erklärt. Aus denen geht auch hervor: Es war und ist eine Schwachstelle der westlichen Staatengemeinschaft und man hoffte immer, es käme nie zu massiven Bevölkerungsbewegungen.

Informationen und Anmeldemöglichkeiten zu den Führungen im Ausweichsitz Rheinland-Pfalz, Alzey gib es hier: www.bunker-alzey.de

Die im Text verwandten Informationen zu „Fallex 62“ stammen aus Akten des Bundesarchivs Koblenz, Bestand B 106 / 135 852.

Ein herzlicher Dank geht in der Bearbeitung des Themas an die Familie von Boeltzig.