"Schaurig und verlogen"
Donnerstag, 19. Oktober 2006

Vor 40 Jahren: Die Regierung zieht zum 1. Mal in den 3. Weltkrieg

Foto: Wolfram Dorn nahm als Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses an FALLEX 66 teil und schrieb nach Einsicht in Geheimakten später das Buch 'So heiß war der Kalte Krieg' über diese Übung. 'ausweichsitz.de' verlost ein handsigniertes Buch. Wer die 'Pflichtlektüre' zum Regierungsbunker mit Widmung haben möchte, muss diese Frage richtig beantworten: In welchem Jahr fand zum letzten Mal eine Großübung im Ausweichsitz statt?

"Von dem, was hier geschah, kann kein Gebet und kein Bereuen uns befreien". Gedanken von Wolfram Dorn vor dem "Atom-Bomb Dom" in Hiroshima, Worte aus seinem Buch "Tausend Jahre sind wie der gestrige Tag" (erschienen 1986). Mit Blick auf das eigene Schaffen sein Lieblingswerk, das ihn an Gebetsplätze in aller Welt brachte. 29 Bücher hat er bisher (Oktober 2006) geschrieben, das 30. ist in Arbeit.

Wolfram Dorn, Baujahr 1924. Seit 1947 Mitglied des Schriftsteller-Verbandes. Mit 29 Jahren Bürgermeister in der damaligen Heimatstadt Werdohl. 1954 wird er Abgeordneter im nordrhein-westfälischem Landtag. 1961 der Einzug in den Deutschen Bundestag. Ein Jahr später ist er bereits Fraktionsarbeitskreisvorsitzender "Innenpolitik" für seine Partei, die FDP. Bis 1968 hat er diese Aufgabe inne.

Eine Schnittmenge der eigenen Biografie in dieser Position wie auch des weltpolitischen Alltages jener Jahre ist somit das Jahr 1966. Dorn zieht in den "Kalten Krieg". Am 17. Oktober bringt ihn die Stabsübung FALLEX 66 in den Regierungsbunker an der Ahr. Ein schauriger Ort, erinnert er sich an das Betreten der Anlage. Doch das wirklich Schaurige, für ihn nicht Fassbare, soll erst noch kommen.

Als Mitglied des "Gemeinsamen Ausschusses" verlässt Dorn als einer von zwei FDP-Abgeordneten jenes Gremiums exakt um 10.15 Uhr Bonn. "Alles war minutiös durchgeplant".

Der "Gemeinsame Ausschuss": Ihm gehören 22 Bundestags- und 11 Bundesratsabgeordnete als Sprachrohr dieser Gremien an - ein Notparlament mit weitreichenden Entscheidungskompetenzen im Verteidigungsfall.

Um 12 Uhr des 17. soll die Arbeitsbereitschaft im Bunker hergestellt sein. Das ist sie dann auch - was immer das auch heißen mag. Die Abschlussplanung für diese Vorgänge datiert vom 22. August 1966. "Doch bereits ein Jahr vorher wurde das alles bis ins Detail geplant", erfuhr Dorn später. Der Verfasser dieses Teils der Vorplanung sitzt selbst mit in der Anlage und beobachtet sehr genau alle Abläufe. Nicht nur, weil die eigene Arbeit zu FALLEX auf dem Prüfstand steht. Über Jahre ist sein Name mit dem Bau des Bunkers als "Ausbau Anlagen des THW" verbunden, reicht der Einfluss bis in den Bundesverteidigungsrat und damit unmittelbar zu Bundeskanzler Adenauer (Die VS-Akte Marienthal).

Bereits zwei Stunden nach der "Arbeitsbereitschaft" gibt es Arbeit. Die Bundesregierung informiert sich nicht nur unter "Verschlusssache", was in der weiten Welt vor sich geht, der Bunker selbst ist unter Verschluss von der weiten Welt "separat" tätig: Die 25 Tonnen schweren Haupttore im Anlagenteil Ost sind geschlossen, während in West untertage am Ausbau des Tunnelsystems weiter gearbeitet wird. Doch davon kriegen die eingerückten 1.500 Übungsmitglieder nichts mit. Der Westteil, an dessen Baustelle sie teilweise vorbeigereist sind, wird als Versorgungsstollen klassifiziert. Es ist nicht das letzte Versehen zwischen Wirklichkeit und Information an die Bunkerinsassen jener Tage.

Das Hauptaugenmerk wird auf die politische Lage gelenkt. Und die ist prekär. Zwischen ORANGE und Rot-China steigt die Spannung. Hinzu kommt eine Verschärfung der wirtschaftlichen ORANGEnen Lage. Erfolge sucht man in solchen Situationen idealerweise außenpolitisch. Also wird der "allgemein wirtschaftlich, politische Druck auf Skandinavien und Griechenland" hervorgehoben, der plötzlich durch einen Staatsstreich in Jugoslawien in den Schatten gestellt wird. Während der ein oder andere Abgeordnete im Gemeinsamen Ausschuss noch über den flotten Galopp der Weltpolitik staunen mag, kündigt ORANGE einen Flottenbesuch Kubas an. Die Russen sind also auf dem Weg Richtung Neue Welt, was für Europa eventuell entspannend erscheinen mag. Ist es schließlich nicht, "denn um kurz vor 6 Uhr abends jenes Tages wird der nächst höhere Alarm im Bunker ausgelöst", so Teilnehmer Dorn. Was noch am ersten Tag folgt, ist die Verlegung holländischer und englischer Truppen nach Deutschland, während Frankreich seine Grenzen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen schließt.

"Bundeskanzler (Üb) Lücke erklärt", so die Erinnerungen von Wolfram Dorn (Paul Lücke war Bundesinnenminister und vertrat übungshalber den Bundeskanzler), "dass die Feststellung des Zustandes der äußeren Gefahr besonders aus innenpolitischen Gründen notwendig ist."

Eine Schlüsselaussage, wie sich später herausstellen soll. "Die Übung hatte klar einen innenpolitischen Ansatz. Das vorbereitete Drehbuch eines Krisenfalls mit dem Ostblock setzte nämlich voraus, dass das Notparlament alle militärischen Entscheidungen mit trug." Und genau hier erlebte der Gemeinsame Ausschuss sein Waterloo. Denn der Atomwaffeneinsatz spielte sich größtenteils auf deutschem Gebiet ab. "Es war eine rein deutsche Lösung und die Übung ging soweit, dass die NATO von einer Akzeptanz der UdSSR beim Einsatz von atomaren Waffen auf ostdeutschem Gebiet ausging, wenn der Westen seinerseits den Gegenschlag des Ostens auf Gebiete der Bundesrepublik nicht nur hinnehmen würde, sondern wir sogar das eigene Territorium mit Atomwaffen kontaminieren und damit einen Gürtel zwischen Ost und West schaffen würden." Die Geburt einer Verhandlungsposition. Deutschland einig Vaterland war eine Sache, ob die Textzeile einer Nationalhymne "Auferstanden aus Ruinen" dann jedoch für die kommenden Jahrzehnte ihre Gültigkeit behalten dürfte, stand auf einem anderen Blatt dieses Strophe des Kalten Krieges.

Krieg mit Verspätung

Die Schubladen unter den Ahrtalbergen hatten aber genau für solche Fälle der Entscheidungsfindung eine Lösung parat. Die Notstandsgesetze erlebten ihre Premiere. Was darf ein Staat in einer solch heiklen Lage, was muss er veranlassen - natürlich auf einer demokratischen Rechtsgrundlage. "Ich war überrascht, wie weit man auch in dieser Situation gedacht hatte" erinnert sich Wolfram Dorn heute, der damals nicht zustimmen mag, als Deutschland mit atomarer Kraft ins Nirwana verabschiedet werden soll. "Wir haben kräftig diskutiert und debattiert und standen unserem militärisch taktierendem Umfeld wahrscheinlich nur im Weg herum". 32 Stunden war dies der Fall, traf sich der Ausschuss insgesamt 18 Mal und wird über die aktuelle taktische Lage informiert. Das Fazit: Die zivilen Entscheidungsträger sind - nicht ganz unplanmäßig - überfordert. Verspätungen im Kriegsverlauf inklusive.

Nach einer Woche im Bunker war Schluss. Die Abgeordneten kehrten zurück nach Bonn, wurden von ihren Familienmitgliedern teilweise schon in Marienthal mit Blumen empfangen. Es gab zuvor ausgedehnte Überlegungen, was mit in die Öffentlichkeit genommen werden darf. Interviews waren erlaubt, ohne jedoch auf die geheimen Inhalte der Übung eingehen zu dürfen. Gerade für die Militärs, deren ausschließliche Aufgabe die Durchsetzung der Übungsbestandteile war, ein Problem. Dorn wird noch im Bunker über ein Telegramm zu einem Fernsehinterview der "Unitedpress International" in ein Ahrweiler Weinhaus eingeladen, während Ausschuss-Vorsitzender Benda bekannt gibt: "Im Rahmen der NATO-Übung "Fallex 66" hat zum erstenmal der in dem Entwurf einer Notstandsverfassung vorgesehene Gemeinsame Ausschuss an der Vor- und Hauptübung teilgenommen".

Wolfram Dorn traf sich anschließend mit Bundeswehroffizieren - am Anfang aus Zufall, später aus gutem Grund. "Die Ausschussmitglieder hatten nicht an der Hauptübung in vollem Umfang teilgenommen. Diese ging nach unserem Abmarsch weiter. Das war nicht bekannt. Es folgte die Auseinandersetzung der Blöcke mit allen Waffengattungen, anschließend die Reorganisation des militärischen und zivilen Lebens."

Im "X-Fall", so der NATO-Jargon, hätte Dorn diese Phasen miterlebt. Was es dann noch zu organisieren gäbe - Wolfram Dorn hatte eine Vorstellung davon.

Er ist empört und geht in die Öffentlichkeit. Heinrich Böll und Erich Fried aus seinem ureigenstem Gebiet, der Literatur, stehen an seiner Seite. "War die Stimmung zwischen Benda und mir bereits im Bunker angespannt, verbesserte sie sich so natürlich nicht." Ernst Benda war Präsident des Notparlaments und ab 1967 Staatssekretär im Bundesinnenministerium, unter Kanzler Kiesinger schließlich Bundesinnenminister.

1969 wechselt die Regierung. Unter Kanzler Willy Brandt wird FDP-Mann Dorn Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Innenminister ist Hans-Dietrich Genscher. Bereits am ersten Tag dieses Lebensabschnittes fallen Dorn zwei wichtige Ressorts zu: Er baut die Bereiche Sport und Kultur auf und reorganisiert den Schutz der Bevölkerung im Krisenfall. "Aus der Zivilverteidigung wurde der Zivilschutz!" Mit Blick auf die Vergangenheit werden alle Planungen im Bereich "zivile Schutzbauten" als wirkungslos - und so sinnlos - eingestellt.

Genau eine Anlage darf mit Zustimmung des BMI fertig gestellt werden.

"... ein neues Grün und ein neues Leben;
wachsen Blumen, die uns Hoffnung geben."
so endet Dorns Gedicht zu Hiroshima. Das atomare Inferno anno 1966 und folgende ist Marienthal erspart geblieben. Auf den Resten der Anlage wachsen heute Blumen.

Wolfram Dorn hat den Bunker noch ein zweites, letztes Mal, als Staatssekretär vor über 30 Jahren betreten.

Seine Erinnerungen an die Tage der Übung hat er im Buch "So heiß war der kalte Krieg - Fallex 66" niedergeschrieben (Dittrich; ISBN 3-920862-39-2, Preis 20 Euro)

"ausweichsitz.de" verlost ein handsigniertes Buch von Wolfram Dorn mit seinen Erinnerungen und Recherchen zu FALLEX 66. Wer die "Pflichtlektüre" zum Regierungsbunker mit Widmung haben möchte, muss diese Frage richtig beantworten: In welchem Jahr fand zum letzten Mal eine Großübung im Ausweichsitz statt?

Einsendeschluss ist mit dem 28. Oktober der letzte Übungstag vor 40 Jahren, an dem der Autor nicht mehr teilnahm. Einsendungen an: Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, Sie müssen Javascript aktivieren, damit Sie es sehen können