Aktuelle Terrorwarnung gegen Regierungssitz wirft Frage nach Schutzbau auf
 Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (im Bild bei einer Pressekonferenz 2009). Sein Ministerium war in der Vergangenheit zuständig für die Funktionsfähigkeit der Bundesorgane in Krise oder Krieg ist es aber nicht mehr. Andere haben das Kommando übernommen.
Berlin, 17. November 2010, 12 Uhr. Bundesinnenminister Thomas de Maizière gibt eine „Stellungnahme zur aktuellen Gefährdungslage“ in der Bundesrepublik Deutschland ab, die sich aus terroristischen Aktivitäten ergibt. Hinweise auf mögliche Anschläge, so der Minister, gäbe es seit Längerem. Doch nun verdichten sich diese Erkenntnisse zu einer konkreten Spur. Nach wenigen Minuten ist de Maizière fertig. Stunden später wird dann öffentlich, was genau zu erwarten ist. Unter anderem plane ein Terror-Rollkommando die Erstürmung des Reichstages, dem Sitz des Deutschen Bundestages. Wann zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Regierung so gezielt bedroht? Die Situation verändert - natürlich - massiv die Sicherheitslage um den Regierungssitz – außen wie auch innen. Was die Frage nach Schutzräumen einschließt. Das Staatsgeheimnis um den aktuellen Regierungsbunker rückt – ungewollt – ins Rampenlicht.
Viel wurde bereits spekuliert über den Berliner Regierungsbunker. Gibt
es ihn überhaupt? Und wenn ja, wo? Und in welcher Größe? Ist er
eventuell als Teil einer ganz anderen, größeren Baumaßnahme unter
Geheimhaltung „mitgebaut“ worden – beispielsweise unter einem Bahnhof
oder im Keller von Regierungsbauten?
Kanzleramt 2009: „Verlagerung in Ausweichsitze“
 Bundesinnenminister Dr. Gerhard Schröder (rechts) entwarf vor einem halben Jahrhundert die Grundzüge der Notstandsgesetze, sein Mitarbeiter Walter Bargatzky (links; Abteilungsleiter Ziviler Bevölkerungsschutz) baute der Bundesregierung ableitend aus diesen Gesetzen ihren Bunker im Ahrtal. Der Bunker ist heute weg, die Gesetze aber gelten noch immer.
Das Bundeskanzleramt teilt auf Anfrage der Dokumentationsstätte
Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler, am 12. März 2009 dazu mit:
„Bundesministerien haben Teilkonzepte zur Verlagerung von ihren
wichtigsten Regierungsfunktionen in Ausweichsitze erstellt“. Und weiter
erklärt das Bundeskanzleramt, dessen damaliger Chef der gleiche Thomas
de Maizière ist, der nun als Innenminister eine klare Terrorwarnung
ausspricht: „Die Bundeskanzlerin kann die Koordination bzw. Führung vor
dem Hintergrund der besonderen Bedeutung einer eingetretenen Lage
übernehmen.“ Was hinter dem Beamtendeutsch steckt: Das Krisenmanagement
der Bundesregierung ist im Regelfall fachbezogen organisiert, das
zuständige Ressort einem Ministerium unterstellt. Im Extremfall
allerdings geht es direkt auf die Bundeskanzlerin über, die dann in die
Lage versetzt werden muss, handlungsfähig zu bleiben und das
Krisenmanagement zentral zu koordinieren.
 Kabinettssaal 115 Meter unter der Erde. Der Regierungsbunker im Ahrtal war als Lösung für den Krisenfall etwas überdimensioniert, aber grundsätzlich richtig, machte Bundesinnenminister Prof. Dr. Ernst Benda noch 2008 deutlich.
Das schließt auch bauliche Maßnahmen ein und die Absicherung, über
Kommunikationssysteme mit allen wichtigen Bereichen – innerhalb wie
auch außerhalb Berlins – in Kontakt zu bleiben.
Wurde also jetzt, während vor dem Reichstag schwer bewaffnete
Polizeikräfte eine Bannmeile hüten, hinter verschlossenen Türen der
Regierungsbunker bezugsklar gemacht? Denn mit der konkreten
Terrorwarnung gegen den Reichstag ist auch klar: Sollte das Gebäude
erstürmt werden, käme die Evakuierung der Regierung aus dem Reichstag
einem potentiellen Angreifer entgegen. Zumal unbekannt ist, mit welcher
Stärke er wo angreift und welches Wissen er um die Infrastruktur hat.
Ein Rückzug in Schutzräume direkt aus dem Plenarsaal heraus wäre also
die weitaus bessere Lösung.
De Maizière´s Warnung folgte recht schnell die nächste Sitzung des
Bundestags. Der parlamentarische Alltag läuft weiter, trotz konkreter
Terrorwarnung gegen das höchste Haus der Deutschen. Eine klare
Botschaft der Regierung. Was aber, um das Wissen der konkreten
Gefahrenlage umso mehr vermuten lässt, dass man entsprechende
Schutzräume in kürzester Zeit und direkt aus dem Bundestag unter der
nun besucherfreien Kuppel erreichen kann.
Bonn: Regierungsschutzbauten an allen Ecken
Konkretes dazu ist aus den eingeweihten Berliner Kreisen natürlich
nicht zu hören. Doch ein Blick nach Bonn verrät einiges über das
Schutzraumbedürfnis der deutschen Regierung – zusätzlich zum
Regierungsbunker im 30 Kilometer entfernten Ahrtal. So gab und gibt es
im 1. Untergeschoss des ausrangierten Bundeskanzleramtes ein ganzes
System von Schutzräumen mit insgesamt 600 Quadratmetern Fläche. Neben
Schwimmbad, Möbellager oder Postuntersuchung gab es diametral für 500
Personen zehn Schutzräume – sprich: an jeder Ecke des Kellers eine
Gruppe. Direkt neben der Hauptzufahrtsrampe und versehen mit einem
eigenen Parkplatz samt Vorfahrt waren die Schutzräume mit den Nummern 5
und 6 eingerichtet – logistisch bestens durchorganisiert, denn aus dem
verbunkerten Teil des Bundeskanzleramtes ließe sich direkt in ein
bereitstehendes Fahrzeug einsteigen und auf kürzestem Weg über die aus
dem Kellergeschoss gerade angelegte Ausfahrt das Kanzleramt mit Vollgas
verlassen.
 Oben Pflanzkübel, unten Gitter um die Luftversorgung des geheimen Schutzraums: Gartengestaltung des Bonner Kanzlerbungalows.
Für alle Fälle war selbst unter dem Kanzlerbungalow – keine 100 Meter
vom Kanzleramt entfernt - ein Schutzraum eingerichtet. Beim Blick
zurück wird also klar: Dem baulichen Schutz des Bundeskanzlers kam
immer eine große Aufmerksamkeit zu, egal wo er sich gerade aufhielt.
Mit Sicherheit wird also auch die aktuelle Bundeskanzlerin nicht im
Reichstag bei einer Bundestagsdebatte sitzen und ihre Sicherheit im
Angesicht massiver Terrorwarnungen ausschließlich dem Sperrgürtel vor
der Tür überlassen.
11. September 2001: Ruf nach einem Regierungsbunker
 Veränderte Bedrohungslage: Die Angst vor einem atomaren Weltkrieg sorgte für den Bau des Regierungsbunkers (im Bild die erste Belegung im Rahmen der NATO-Übung Fallex 66). Diese Gefahr schien ab 1997 überwunden, doch ausgerechnet mit Beginn des Abrisses 2001 wurde eine ganz neue Gefahrenlage greifbar die von Terroranschlägen auf Regierungszentren.
Wie ernst man mit terroristischen Bedrohungen in diesem Zusammenhang
umgeht, machen auch die Anschläge des 11. September 2001 deutlich. Nach
über 30 Jahren Dauerbetrieb rollten im ausgemusterten Marienthaler
Regierungsbunker die Bagger an und gingen an den Abriss des Schutzbaus.
Doch ausgerechnet mit dem ersten Einschlag der Abrissbirne wurde in New
York ein völlig neues Kapitel terroristischer Anschläge aufgeschlagen.
Das führte zu einer sofortigen Neubewertung der Sicherheitslage auch in
Deutschland – eingeschlossen die Frage, wohin die Regierung evakuiert
wird, sollte sie Ziel eines terroristischen Anschlages sein.
Eine fatale Sicherheitslücke tat sich auf, denn auf Nachfrage aus dem
Bundeskanzleramt (beim Verteidigungsministerium) wurde klar, dass es
kein adäquates Schutzbauwerk in Berlin gab. Also wurde die Bauleitung
in Marienthal aufgefordert, alle Abrissarbeiten sofort einzustellen,
bis man – wenigstens provisorisch – eine Lösung in der neuen Hauptstadt
geschaffen hätte.
Vier Wochen später kam die Weisung: Der Ahrtal-Bunker kann weiter
abgerissen werden. Schnell war klar: In vier Wochen lässt sich kein
Bunker bauen. Ob er in dieser Zeit „fertig gestellt wurde“ oder ein
Provisorium eingerichtet, bleibt ein Staatsgeheimnis. Weniger geheim
aber ist: Das Bundesinnenministerium hält seit dem 11. September 2001
und den folgenden Anschlägen in Europa an seiner Beurteilung einer
Terrorgefahr fest. Die nun so konkret gegen die Bundesregierung
ausgesprochen wurde, wie nie zuvor. Immerhin hatte man nach der
Neubewertung in Folge der New Yorker Anschläge im zuständigen
Bundesinnenministerium neun Jahre Zeit, einen baulichen Schutz für die
Bundesregierung umzusetzen.
 Der Bereich mit der höchsten Sicherheitsstufe im Regierungsbunker: Das Lagezentrum des Bundesverteidigungsministeriums (1998). Hier sollten die Nachrichten der verbunkerten NATO-Kommandozentralen eingehen, die in abgespeckter Version noch heute existieren.
Eine Verpflichtung dazu liegt für die
Bundesrepublik Deutschland ohnehin wegen der NATO-Mitgliedschaft vor.
Denn auch, wenn sich auf nationaler Ebene die Sicherheitsbeurteilung
nach Ende des Kalten Krieges verändert hat – die NATO als militärische
Allianz schreibt ihren Mitgliedsstaaten nach wie vor die Einrichtung
sogenannter Kriegshauptquartiere für Regierungen ins Pflichtenheft und
betreibt ihre verbunkerten Kommandostellen – wie beispielsweise die
Bunkeranlage „Castlegate“ in Linnich – noch immer. Doch das Netzwerk
aus verbunkerten Führungsstellen funktioniert nur, wenn die Regierungen
der Mitgliedsstaaten ebenfalls in die Lage versetzt werden, unter
Vollschutz handlungsfähig zu bleiben.
Deutsche Gesetze regeln die Größe des Regierungsbunkers
Diese Unterbringung dürfte in Deutschland noch immer recht großzügig
ausfallen, denn der Artikel 115 des Grundgesetzes regelt einige
personalintensive Details für den „V-Fall“ (Verteidigungsfall) – so die
Einsetzung des Gemeinsamen Ausschusses. Dem gehören aktuell 48
Mitglieder an, die zusammen mit ihren Stellvertretern als Notparlament
geschützt untergebracht werden müssen. Damit ist die Belegungsstärke
eines Krisenzentrums für die Regierung aber bereits bei knapp 100 Personen.
Ein Blick in die Organigramme der Bundesregierung für Krieg und Krise
verrät, dass die Ministerien mit ihren Arbeitsstäben ebenfalls
handlungsfähig bleiben müssen. Das letzte Mal, dass alle Nutzer eines
Regierungsbunkers ihre Personalstärke an das Bundesinnenministerium
meldeten, endete der Zahlenkonvoi bei 2.227 (März 1996). Das war in
einer Zeit, als die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung als
„unwahrscheinlich“ galt und von Terrorgefahr überhaupt nicht die Rede
war. Konsequenterweise hatten die Ministerien ihre krisen- und
kriegsrelevanten Personalstärken reduziert, konsequenterweise wurde der
Regierungsbunker an der Ahr aufgegeben.
Doch inzwischen hat sich das Lagebild massiv verändert.
Konsequenterweise müsste ein Regierungsbunker also nach der
sicherheitspolitischen Neubewertung 2001 wieder da sein – und unter
Anwendung des Grundgesetzes und nach Auslegung der Antwort aus dem
Bundeskanzleramt (März 2009: „Diese Planungen schließen neben einer
angemessenen Notfallplanung auch eine Räumung der Bundesministerien und
die Wahrnehmung ihrer wichtigen Regierungsfunktionen (...) an einem
anderen Standort ein.“) für weit mehr als 1.000 Personen ausgelegt sein.
Sollte es also die aktuelle Berliner Sicherheitslage gebieten, müsste
Angela Merkel und mit ihr die Ministerriege evakuiert werden – an einen
Ort, den es eigentlich wegen der Geheimhaltung um ihn gar nicht
offiziell gibt. Die Tageslage im Reichstag ist also nicht nur wegen der
politischen Debatten und der Polizeipräsenz ein spannendes Thema.
Stand November 2010; inhaltlich überprüft und noch immer gültig (März 2015)
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