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Mittwoch, 18. Januar 2012

Bundesarchiv-Präsident Dr. Michael Hollmann zu Verschlusssachen und ihre Aufarbeitung

Dr. Michael Hollmann, seit Mai 2011 Präsident des Bundesarchivs.

„Der Staat hat zurecht Geheimnisse – im Sinne der öffentlichen Sicherheit“ stellt Dr. Michael Hollmann gleich zu Beginn des Gespräches zu Verschlusssachen (VS) des Bundes fest. Das wirkt nicht abweisend oder bremsend auf die weitere Fragestellung, sondern beschreibt nüchtern eine Tatsache. Seit Mai 2011 ist der promovierte Historiker Präsident des Bundesarchivs, in dem er seit 1989 arbeitet. Hollmann ist VS-ermächtigt, darf also, wenn es seine Aufgaben als Archivar erfordern – in Akten lesen, die der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. So kann er auch in Teilen beurteilen, wie stark denn die „öffentliche Sicherheit“ durch die Informationen in diesen Unterlagen gefährdet ist und gibt Entwarnung. „Oft genug sind das rein formale Vorgänge, die nur deshalb heute nicht offen sind, weil sie schlicht durch die Verursacher geprüft und freigegeben werden müssten“.

Unterwelt des Koblenzer Bundesarchivs: Gut sortiert und klimatisiert wird hier aufbewahrt, was für die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik von Bedeutung ist.

Doch dafür fehlt das Personal. Und bevor man einen hochdotierten, VS-ermächtigten Mitarbeiter in Berlin oder Bonn in den Keller setzt und Akten lesen lässt, bleiben die Registraturen lieber verschlossen. Hollmann nennt ein Beispiel: „Im Rahmen eines Bundeswehr-Manövers fahren fünf Panzer über eine Brücke. Im Vorfeld stuft die Bundeswehr dieses Manöver als Verschlusssache ein und informiert auch den BGS, das BMI, sogar die Polizei über den Eingriff in den Straßenverkehr, die automatisch auch einen VS-Vorgang produziert. Spätestens während des Manövers sieht die Öffentlichkeit die Panzer und weiß auch, dass es fünf Stück waren, die über die Brücke gefahren sind. Damit ist es kein Geheimnis mehr, wird aber als Akte weiter so behandelt.“ Was zur Folge hat: In deutschen Dienststellen und Ministerien stauen sich Verschlusssachen – ca. 7,5 Millionen Vorgänge schätzt der Freiburger Historiker Prof. Dr. Josef Foschepoth. Auf eine konkrete Zahl legt sich Michael Hollmann nicht fest, geht aber von „mehreren Millionen“ aus. Einige dieser Akten widmen sich der Planung und dem Bau des Regierungsbunkers im Ahrtal.

Regierungsbunker: Das offene Staatsgeheimnis

Der Bunker hat als Verschlusssache eine Achterbahnfahrt hingelegt. 2005 richtet Jörg Diester eine Anfrage an das Bundesarchiv mit der Bitte um Akteneinsicht zum ermittelten Tarnnamen aus Bauunterlagen „Anlagen des THW“. Und tatsächlich wurde das Archiv im Bestand B 106 (Bundesministerium des Innern) und B 157 (Ministerielle Bundesbauverwaltung) fündig.

Dr. Michael Hollmann, die „Geheimakte Regierungsbunker“ und deren Autor Jörg Diester.

Michael Hollmann: „Die Unterlagen aus dem Innenministerium hätten unter Berücksichtigung der VS-Verordnung nicht freigegeben werden dürfen, denn es sind auch Dokumente anderer Verursacher – also nicht nur des BMI – enthalten“. Sogenannte „Misch-VS“ – eigentlich ein K.o.- Kriterium für die Abgabe an einen Nutzer, denn jede einzelne Akte müsste durch alle beteiligten Ministerien freigegeben werden. „Das war nicht der Fall, für uns aber nicht ersichtlich – also haben wir der Auswertung zugestimmt.“

Im März 2008 erscheint das Buch „Geheimakte Regierungsbunker“, das in weiten Zügen den Inhalt der Archiv-Akten widerspiegelt. Im Jahresverlauf 2008 stehen dann die Unterlagen im Bundesarchiv für eine Nutzung nicht mehr zur Verfügung. Was war passiert?

Präzedenzfall Regierungsbunker

Michael Hollmann: „Nach Ende der Nutzung wurden die Akten wieder ins Regal des Archivs gelegt. Die Aufarbeitung von VS-Material war über dieses Beispiel eigentlich für uns ein Musterfall und sollte aus unserer Sicht so auch dargestellt werden – auch gegenüber den Ministerien als Verursacher von VS-Material. Doch genau das war mit Blick auf die Verschlusssachen-Verordnung nicht möglich. Aus diesem Grund stehen die Unterlagen heute nicht zur Verfügung“.

Gemischtes Doppel „Bunker – Bundesarchiv“: Im Bunker war das Bundesarchiv für den Evakuierungsfall eingeplant, im Archiv liegen heute die Bunker-Akten, allerdings unter Verschluss.

Die wundersame Auf- und Abstufung der Geheimhaltung – für den Regierungsbunker von Anfang an ein Thema. Denn einst als „Offen“ klassifiziert, wechselt der Bund auf „Geheim“, dann sogar auf „Streng geheim“ – und sorgt so ungewollt für gesteigertes Interesse um sein „Staatsgeheimnis Nummer 1“. Selbst nach Ende des Kalten Krieges regt der Bundesrechnungshof an: Um die Sicherheitsmängel der Anlage zu kaschieren, sollte „Streng Geheim“ angewandt werden. Denn zu dieser Zeit ist es noch der Ausweichsitz der Regierung, auch wenn der Mängel und Macken hat.

Hollmann nennt ein Beispiel, wie man es geschickter machen kann: „Es gab mal einen Schriftwechsel zwischen zwei hochrangigen Bonner Politikern, den einer dem anderen so ankündigte: Ich schicke es Offen, denn wenn ich es Geheim-stempele, ist das Interesse des Mitlesens in unseren beiden Häusern zu hoch.“

„Geheim“es Aussitzen

Für alle Geheim-Akten des Bundes und ihre Aufarbeitung gilt nun: Abwarten. „Ende 2012 greift eine neue Verordnung bei der Aufarbeitung“, macht Michael Hollmann Mut. Dann werden mit Jahresbeginn 2013 die VS-Unterlagen der Bundesrepublik bis 1959 freigegeben, anschließend jedes Jahr drei weitere Jahrgänge – also 2014 die Unterlagen 1959 bis 1962, 2015 die von 1962 bis 1965 und so weiter.

Für die Ministerien bedeutet das: Eine Erleichterung in der Abgabe ihrer VS-Bestände. Wenn sie überhaupt wollen. Denn, so Hollmann: „Behörden haben das Recht, den Zeitpunkt der Abgabe ihrer Unterlagen an das Bundesarchiv selbst zu bestimmen.“ Und er macht auch kein Geheimnis daraus, dass die Kassation folgen kann – heißt: Das Bundesarchiv beurteilt den Inhalt der Unterlagen nach historischem Wert. Akten ohne Bedeutung landen dann im Reißwolf.

Entsorgung von Regierungsbunker-Akten 2004 (am Museumsbereich): Mehrfach hatten Archiv-Mitarbeiter eine Sichtung beantragt, die wegen der laufenden Bauarbeiten aus Arbeitsschutzgründen abgelehnt wurde – bis alles vergammelt war und im Müllcontainer verschwand.

Das Schicksal einer Kassation ist ganzen Kubikmetern Regierungsbunkerakten bereits wiederfahren. Aber nicht, weil das Bundesarchiv deren Wert entsprechend festlegte. Mehrfach hatte Mitarbeiterin Kerstin Schenke den Bunker ab 2001 wegen seiner Akten aufsuchen wollen, was wegen der Rückbauarbeiten nicht möglich war. Die Arbeitssicherheit ging vor und sorgte schließlich dafür, dass die Unterlagen im Bunker ungesehen vergammelten. 2004 verschwanden sie dann in mehreren Containern eines Bonner Müllentsorgers.

„Vernichtung ist immer noch die sicherste Form der Geheimhaltung“ stellt Michael Hollmann passend fest. Für einige VS-Akten in Bundesministerien wird es wahrscheinlich darauf hinauslaufen, denn die großen Verursacher von Geheim-Dokumenten – Bundeskanzleramt, BMI, BMVg. oder Auswärtiges Amt – werden schon aufgrund der Masse Schwierigkeiten in der Bearbeitung bekommen. Zumal der Bundesrechnungshof den Ministerien verboten hat, neue VS-Registraturen zu bauen. Also werden die Ablagen früher oder später aus allen Nähten platzen und es muss etwas passieren.

Doch auch die „Großen“ haben ihre Hintertür im Umgang mit VS & Co.: „Offenlegung heißt nicht, dass die Unterlagen sofort an das Archiv abgegeben werden müssen“ nennt Michael Hollmann eine Schwäche des Archivgesetzes. „Akten sind dem Bundesarchiv anzubieten, soweit sie nicht mehr gebraucht werden“, beschreibt der Präsident das Regelwerk. „Das Auswärtige Amt beispielsweise aber meint: Wir brauchen alles!“ Also bleibt alles, wo es ist – im „Politischen Archiv“ des Auswärtigen Amts. Eine Aufarbeitung, initiiert durch das Amt selbst, hat bereits stattgefunden – durchgeführt durch ausgesuchte Historiker und ohne Beteiligung des Bundesarchivs. Ähnlich lässt momentan der Bundesnachrichtendienst seine geheimen Unterlagen sichten.

VS mit Langweile-Faktor?

Bundesarchiv-Präsident Hollmann zu „brisanten“ Inhalten von Verschlusssachen: „Die meisten Leute werden enttäuscht sein, wenn sie in VS-Registraturen lesen dürften“.

„Die meisten Leute werden enttäuscht sein, wenn sie in diesen VS-Registraturen lesen dürften. Da stehen nicht die großen Dinge drin – keine Verschwörungen zwischen Politikern oder Regierungen“, entschärft Hollmann. Trotzdem hält er die Salamitaktik der Abgabe von VS-Material ab 2013 für problematisch. „Die Prüfung nach Jahrgängen scheint nicht immer die ökonomischste Methode der Bearbeitung. Ein Problem hat das Bundesarchiv vor allem dann, wenn wir viele Akten erhalten, die nach wie vor Geheim eingestuft sind und durch uns vor einer öffentlichen Nutzung Seite für Seite geprüft werden müssen.“

Für den Regierungsbunker lässt sich also bereits heute errechnen, wann alle Unterlagen zur Bauzeit (bis 1971) im Bundesarchiv ausliegen: 2017 würden diese Bestände einer Aufarbeitung dann wieder – wie schon zwischen 2005 und 2008 - zur Verfügung stehen. Wenn denn alle Ministerien zustimmen. Jörg Diester weiß aus der Erstlesung im Archiv, wer da alles so mitmischte: Die Ministerien des Innern, der Verteidigung, für das Post- und Fernmeldewesen, der Finanzen, Wirtschaft und Verkehr, das Bundeskanzleramt, alle Verfassungsorgane als Nutzer des Ausweichsitzes, die Bundesländer und eine ganze Reihe von Ämtern als Lieferanten von Gutachten und Untersuchungen. Kaum anzunehmen, dass irgendjemand seine Unterlagen zum Bunker noch braucht, denn der ist ja längst abgerissen und existiert gar nicht mehr. Und trotzdem ist fraglich, was schließlich an das Archiv abgegeben wird.

Doch Michael Hollmann weiß aus der Praxis in der Aufarbeitung auch: „Das Bundesarchivrecht ermöglicht den direkten Weg. Konkrete Anfragen an die Ministerien und eine daraus resultierende Einzelfallprüfung sind gang und gäbe.“ Ein freundliches Anschreiben, und VS wird von der Verschlusssache zum Verwendungsschriftstück. 

Die Bonner Republik: Ein offenes Buch in Ost-Berlin

Das gilt bereits heute für die Unterlagen des Bundes im Bestand der DDR-Staatssicherheit. Ein völliges Kuriosum und gern gewähltes Verfahren bei der Geschichtsbearbeitung der Bundesrepublik: Die Stasi hatte sich insbesondere auf Staatsgeheimnisse der Bonner Republik spezialisiert. Was man kriegen konnte, wurde in Ostberlin gesammelt – so viel wie möglich und je geheimer, desto besser.

In der Folge schließt die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auch die Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik ein. Kongenial: Das, was in Bonn einen Stempel „Geheim“ oder „Streng Geheim“ erhielt, klassifizierte die DDR nach ihrem Wertesystem und machte es zu einem Vorgang des Arbeiter- und Bauernstaates. Und der ist in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte heute allgemein zugänglich. So ist es mittlerweile möglich, dass Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik, die das Bundesarchiv wegen VS nicht für eine Aufarbeitung zur Verfügung stellen kann, ohne Probleme bei der BStU. (Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen) einzusehen sind.

Ein Land, viele Archive und ganz unterschiedliche Nutzungsbedingungen: Dieses Bild (von Jupp Darchinger) gibt es als gleiches Motiv im Ostberliner Stasi-Archiv (BStU.; in schwarz-weiß) und im Bundesarchiv (Bestand MAD) – einmal „offen“, einmal als VS „Geheim“.

So ergeht es aktuell auch einer ganzen Fotosammlung vom Regierungsbunker, angefertigt zwischen 1965 und 1970 durch den Militärischen Abschirmdienst (Nachrichtendienst beim Bundesverteidigungsministerium), die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi) und Pressefotografen wie Jupp Darchinger aus Bonn.

Das Bundesarchiv hält die Bilder des MAD als Staatsgeheimnis unter Verschluss. Die Stasi-Bilder – von gleicher Qualität und den gleichen Standorten um den Bunker angefertigt – können zu 4,70 Euro digitalisiert erworben werden. Und Jupp Darchinger hat die Rechte an seinen Bildern an die Friedrich-Ebert-Stiftung übertragen. So wird das historische Gewissen der Bundesrepublik heute fragmentiert an mehreren Orten und zu ganz unterschiedlichen Nutzungsbedingungen gepflegt.

Der Weg zur vollständigen Aufarbeitung der bundesdeutschen Geschichte wird so ein langer werden.

Und doch geht Michael Hollmann nicht davon aus, dass 2025 – dann sind alle Unterlagen aufgrund des novellierten Archivrechtes freigegeben – die Geschichte der Bundesrepublik neu geschrieben werden muss. Aber was da alles auf das Bundesarchiv und die historische Aufarbeitung zukommt, kann er heute bestenfalls quantitativ erahnen: Einige Millionen Akten.

Welche Qualität die haben, weiß niemand.