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„In dieser schweren Stunde ...“ PDF Drucken E-Mail
Donnerstag, 16. April 2015

Kriegstagebuch dokumentiert vorbereitete Reden von Kanzler und Präsident

Die Möbeleinrichtung mag Geschmackssache sein, doch die Nachrichtenlage in diesem Raum ist 1966 alles andere als rosarot: Im Besprechungsraum des Bundespräsidenten wird seine Rede zum Kriegsfall vorgelegt.

Die rote Tyrannei ist auf dem Vormarsch und im „Kampf um das Leben und die Freiheit unserer Kinder werden wir ein Beispiel jenes Mutes und jener Tapferkeit geben, die unserem Volke eigen sind“: Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hatte 1966 Reden für die NATO-Übung „Fallex 66“ vorbereitet, die bei Ausbruch der Kampfhandlungen durch den Bundeskanzler wie auch den Bundespräsidenten gehalten werden sollten. Die Original-Dokumente sind Teil des „Kriegstagebuch III. Korps“ (Bundesarchiv, Freiburg; BMVg. BH 7-3/854) und beschreiben auf beeindruckende Weise den Ausbruch des „Dritten Weltkrieges übungshalber“. Fast 50 Jahre waren sie unter Verschluss.

Nicht nur die Inhalte mit ihrer Ansprache an das Durchhaltevermögen der Bevölkerung und das Vertrauen in die politische Führung geben Aufschluss über Handlungsmodelle für den Kriegsfall; auch die zeitlichen Abläufe und die Informationstransparenz innerhalb des bundesdeutschen Machtapparates lassen tief blicken in das Krisenmanagement.

„Bundespräsident üb.“ Dr. Krone rückt im Regierungsbunker ein

17. Oktober 1966. Die Bundesregierung und oberste Bundesbehörden werden aus der Bundeshauptstadt Bonn verlegt in den geschützten Ausweichsitz der Verfassungsorgane im Ahrtal. Um 9.15 Uhr betreten die Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes den Bunker, um 10 Uhr rückt das Bundespräsidialamt ein. Der Gemeinsame Ausschuss als Notparlament verlässt Bonn um 10.15 Uhr. Um 13 Uhr erreicht Dr. Heinrich Krone die unterirdische Anlage. Als Bundesminister für die Angelegenheiten des Bundesverteidigungsrates übernimmt er die Aufgabe des „Bundespräsidenten (üb)“. Den Bundeskanzler stellt das Bundesinnenministerium mit seinem Minister Dr. Paul Lücke. An seine Stelle rückt im Regierungsbunker Staatssekretär Dr. Werner Ernst als „Bundesinnenminister (üb)“.

Am Osteingang des Regierungsbunkers zu Beginn der Übung „Fallex 66“: Unten rollen die Politiker in den Berg, oben schauen Passanten dem Schauspiel zu.

Die militärische Lage wird im Kriegstagebuch des III. Korps zu diesem Zeitpunkt so beschrieben: „43-46 Orange-Divisionen befinden sich westlich der Spurwechselzone. Damit zeigt die militärische Gesamtlage das Bild eines Aufmarsches“. „Orange“ ist der Codename für die Truppen des Warschauer Pakts, angeführt von der Roten Armee.

Am 17. Oktober um 14 Uhr steigt die Bundesregierung in das laufende Szenario des aufziehenden Dritten Weltkrieges (üb) ein.

Zwischen 15.30 Uhr und 16.55 Uhr findet die erste Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses statt, an dessen Tisch unter anderem Helmut Schmidt (späterer Bundeskanzler), Annemarie Renger (spätere Bundestagspräsidentin), Manfred Wörner (späterer Verteidigungsminister und NATO-Generalsekretär) oder Wolfram Dorn (späterer Staatssekretär im Bundesinnenministerium) als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sitzen. Den Vorsitz hat Ernst Benda (später Bundesinnenminister).

Unterkunftsbereich für die Übungsteilnehmer bei „Fallex 66“: Karg und auf das Notwendigste reduziert.

Wolfram Dorn hält seine Erinnerungen an diese Übung im Buch „So heiß war der Kalte Krieg“ fest, dessen Inhalte korrespondierend mit dem Kriegstagebuch des III. Korps nun detaillierte Beschreibungen zu Inhalten und Abläufen dieser Übung geben – sowohl für den zivilen wie auch den militärischen Bereich.

Das III. Korps mit Standort Koblenz wäre im Verteidigungsfall Teil der NATO-Kommandostruktur und eingegliedert in die 7. US-Armee. Das Aufmarschgebiet: die deutsch-deutsche Grenze, im Übungs-Jargon als DL (Demarkationslinie) bezeichnet sowie die deutsch-tschechoslowakische Grenze in Hessen und Franken. In Erwartung einer Sichelschnittoperation des Warschauer Paktes ein erwartetes Hauptangriffsgebiet mit Stoßrichtung Südwesteuropa.

17. Oktober, 21 Uhr. Aus dem Ahrweiler Bunker wird der „Zustand der äußeren Gefahr verkündet“.

„Mit Angriff in Morgenstunden rechnen“

Wolfram Dorn beschreibt in seinem Buch (S. 77): „Im Anschluss an die Nachrichtensendungen von Rundfunk und Fernsehen verliest der Bundeskanzler einen Aufruf an die Bevölkerung“. Das Kriegstagebuch des III. Korps vermerkt zeitgleich: „Mit Beginn des Angriffs kann für die frühen Morgenstunden des 19. Oktober gerechnet werden.“

Alarmfall für den Bunker und seine Insassen: Für die Morgenstunden des 19. Oktober 1966 rechnet man mit dem Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland – übungshalber.

18. Oktober, 0 Uhr. Im Regierungsbunker bricht der Krieg aus. Laut NATO-Drehbuch überfallen „Orange“-Truppen Österreich. Um 5 Uhr beginnt der Einmarsch in Griechenland, um 7.15 Uhr in der Türkei.

Die Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses erfahren aus der Zeitung von den Kampfhandlungen.

Ab 11.05 Uhr gibt es auch „offizielle“ Informationen dazu im Bunker, unter anderem vom Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel. Fatal: Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Kampfhandlungen tagte zeitgleich der Gemeinsame Ausschuss und hätte durchaus über die Verschärfung der internationalen Lage samt Besetzung des Nachbarlandes durch „Orange“ informiert werden können. Tatsächlich wird der Ausschuss mit Flüchtlingsbewegungen innerhalb der Bundesrepublik beschäftigt.

Obwohl der Regierungsbunker bestens an Nachrichtennetze angeschlossen ist – im Bild der 1965 fertig gestellte Zugang zum Ostteil – werden bei „Fallex 66“ weder Radio- noch Fernsehgeräte im Bunker aufgestellt, was durch das Notparlament bemängelt wird.

Fatal auch: Im Regierungsbunker gibt es weder Fernsehen noch Radio, mit denen sich die Übungsteilnehmer ein Bild vom Zustand vor der Bunkertür machen könnten. Ausschließlich die bei den Lagebesprechungen vorgelegten Informationen dienen als Entscheidungsgrundlage. Mit dem verspäteten Eintreffen wichtiger Nachrichten wird der Gemeinsame Ausschuss zum postumen „Abnicken“ wichtiger Beschlüsse degradiert.

18. Oktober, 19.30 Uhr. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (üb), im Bunker einquartiert im Bauwerk 22 in direkter Nachbarschaft eines WDR-Radiostudios, veröffentlicht eine Verlautbarung des Bundeskanzlers (üb):

„Mit der Verkündung des Zustandes der äußeren Gefahr ist die Befehls- und Kommandogewalt auf Grund des Artikels 65 a des Grundgesetzes auf mich übergegangen. In dieser ernsten Stunde erwarte ich von allen Angehörigen der Bundeswehr, dass sie ihre Pflichten gegenüber dem deutschen Volk treu erfüllen. Zusammen mit unseren Verbündeten hat die Bundeswehr die Aufgabe, Deutschland und die freie Welt vor einem Angriff zu schützen. Wir wollen den Frieden. Die Bundesregierung und alle verantwortungsvollen politischen Kräfte in Deutschland unternehmen alles, um ihn zu erhalten. Dieser Wille zum Frieden und zur Bereitschaft zur Verteidigung sind unteilbar.“ Das Schreiben selbst wird als „offen“ klassifiziert, über die Aufnahme in das geheime Kriegstagebuch bleibt es aber fast 50 Jahre eine Verschlusssache – wie alle Unterlagen, die mit dieser Übung in Zusammenhang stehen.

19. Oktober, frühe Morgenstunden. Der Angriff von „Orange“-Streitkräften auf das Territorium der Bundesrepublik hat begonnen.

19. Oktober, 9.30 Uhr. Eingebettet in medizinische Fachbegriffe wie „Hirnschale“, „Netzbruch“ oder „Aderlass“ als Beschreibung getarnter Einrichtungen der Bundeswehr im Adressfeld, dokumentiert das Kriegstagebuch des III. Korps die Veröffentlichung einer Rede des Bundespräsidenten, die an Presseagenturen sowie Radio- und Fernsehanstalten übergeben wurde. Die Rede ist als Abschrift beigefügt.

19. Oktober 1966: Bundeskanzler Ludwig Erhardt rollt an. Es ist der bis heute einzig bekannte Fall, dass ein amtierender Bundeskanzler „seinen“ Bunker betritt.

19. Oktober, 12.34 Uhr. Bundeskanzler (real) Ludwig Erhard nimmt an einer Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses im Regierungsbunker teil, in der über die militärische und zivile Lage informiert wird. Er raucht - und schweigt.

19. Oktober, nach 13 Uhr. Dem Gemeinsamen Ausschuss wird im Rahmen der laufenden Sitzung die längst im Kriegstagebuch abgeheftete Rede des Bundespräsidenten vorgelegt – dreieinhalb Stunden nach der Übergabe an die Presse! Das ZDF und mehrere Rundfunkanstalten senden längst - übungshalber.

„Meine lieben deutschen Landsleute diesseits und jenseits der Demarkationslinie, Soldaten der Bundeswehr.

Der Friede ist in äußerster Gefahr. Heute früh haben Einheiten der sowjetzonalen Volksarmee die Demarkationslinie überschritten und erste Kampfhandlungen ausgelöst. Das ist ein Bruch des Völkerrechts. Die Aggression richtet sich nicht nur gegen uns, sondern gegen alle mit dem deutschen Volk verbündeten Mächte der Welt.

Nichts haben wir in den vergangenen Wochen unversucht gelassen, um den Frieden zu sichern. Das Zonenregime und die hinter ihm stehenden Kräfte können nicht darüber im Unklaren sein, welche Konsequenzen ihre Angriffshandlungen herausfordern werden.

In dieser schweren Stunde stehen wir alle zusammen. Die Kraft, dem Unrecht und der Gewalt zu widerstehen, erwächst aus unserer Gewissheit, den Frieden leidenschaftlich gewollt und den Ausgleich gesucht zu haben.

Wir sind den Weg der Verständigung bis zuletzt gegangen. Dafür ist die Welt unser Zeuge.

Nun, da die Waffen sprechen, ist es auch dem letzten Zweifler offenbar, wer den Krieg will. Noch haben wir aber nicht die letzte Hoffnung aufgegeben, dass die Vernunft doch noch die Oberhand behält.

Orange hat unsere Abwehr herausgefordert, auch mit Waffen, deren Wahl nicht allein von der Bundeswehr abhängt. Wir stehen in einem weltweiten Bündnis. Unsere Freunde sind an unserer Seite. Das muss dem ganzen deutschen Volk bewusst sein, vor allem auch Ihnen, meine lieben Landsleute jenseits der Elbe. Wir wissen, dass Sie zu Freiheit und Recht stehen. Wir wissen, dass die Mehrheit unserer mitteldeutschen Jugend die Uniform Ulbrichts nicht aus Überzeugung trägt. Lasst uns in dieser Stunde der Gefahr zusammenstehen, dass der Friede doch noch gerettet, dass die gemeinsame Freiheit doch noch errungen werden kann.

Nicht nur wir, Europa darf diesem schändlichen Anschlag nicht unterliegen. Das Recht ist auf der Seite der freien Welt. Zusammen mit unseren Verbündeten sind wir stark. Jeder kann sich auf den Schutz der Bundeswehr und aller öffentlichen Organe verlassen.

Wir werden im Kampf um das Leben und die Freiheit unserer Kinder ein Beispiel jenes Mutes und jener Tapferkeit geben, die unserem Volke eigen sind.

Es lebe Deutschland, es leben Europa, es lebe die Freiheit.“

EXERCISE – EXERCISE - EXERCISE

Bundesarchiv in Freiburg. Mit der Einsichtnahme in das Kriegstagebuch konnten erstmals militärisch-zivile Abläufe der Übung „Fallex 66“ analysiert und beurteilt werden. Quasi als Zugabe fand sich in den Unterlagen die Rede des „Bundespräsident üb.“ für den Kriegsfall übungshalber.

Bei den Mitgliedern des Gemeinsamen Ausschusses löst die verspätete Vorlage dieser Rede massive Kritik an der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung aus. Wiederholt erfolgt die Informationsversorgung im Bunker an zivile Übungsteilnehmer mit starker zeitlicher Verzögerung. Der Gemeinsame Ausschuss will grundsätzliche Verfahren einer Weiterarbeit im Krisenfall erproben und die geplante Notstandsgesetzgebung auf ihre praktische Anwendbarkeit hin überprüfen. Beides gelingt … für sich gesehen und ohne Einfluss auf militärische Entscheidungen. Doch gerade die spielen im Kriegsfall eine entscheidende Rolle.

Noch am gleichen Nachmittag debattiert das Notparlament über den Einsatz von Kernwaffen, die aus dem Bestand der NATO auf bundesdeutschem Gebiet gezündet werden sollen. Doch während drinnen (im Bunker) noch diskutiert wird, wird draußen längst gezündet und geschossen. Der Dritte Weltkrieg zieht mit hohem Tempo und massivem Waffeneinsatz auf – und am Gemeinsamen Ausschuss vorbei.

Für die „Bundesregierung üb“ ist es der erste Testlauf im Regierungsbunker. Elf weitere werden folgen. 12 Mal findet im Bunker der Dritte Weltkrieg statt und sind über 20.000 Teilnehmer mit diesem Ereignis konfrontiert.

Informationen dazu sind bis zum heutigen Tag aufgrund der anhaltenden Geheimhaltung Mangelware. Nur spärlich sickern einige wenige Inhalte durch. Umso bemerkenswerter ist die Einsicht in Akten des III. Korps im Freiburger Standort des Bundesarchivs – auch und gerade weil hier zivile und militärische Ereignisse dokumentiert sind.

Was von all dem blieb: Ein Hauch von Geschichte und viel nackter Beton im entrümpelten Sitzungssaal des Gemeinsamen Ausschusses (Bauwerk 5; im Rahmen der WDR-Aufnahmen zu „Geheimnis Regierungsbunker“).

Für die Dokumentationsstätte Regierungsbunker, aus der zwei Mitarbeiter (maßgeblich Johannes Jung) das Thema im Bundesarchiv recherchiert und bearbeitet haben, ist die Veröffentlichung nicht nur ein Erfolg hinsichtlich einer historischen Aufarbeitung des Bunkers und der darin durchgeführten Übungen.

Mit einer vergrößerten Ansicht des Originalmanuskriptes der Bundespräsidentenrede wird die Ausstellung in der Dokumentationsstätte Regierungsbunker um ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument erweitert und ist ab Mai im unterirdischen Bundespräsidialamt zu sehen.