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Sonntag, 14. Mai 2006

Der Regierungsbunker im Visier der DDR-Auslandsspionage

Foto: Einer der eher seltenen Pannen der DDR-Staatssicherheit ist es zu verdanken, dass die Unterlagen zu den FALLEX/CIMEX/WINTEX- Übungen im Regierungsbunker die Zeiten überdauerten und heute ein beeindruckendes, umfassendes Bild zum Kalten Krieg geben. Mehrere hundert Seiten existieren - von umfassenden Teilnehmerlisten bis zum Einsatz atomarer Waffen und den Startschuss zum 3. Weltkrieg. Eine Kurzzusammenfassung an SED-Chef Honecker, die auch an die Politbüro- Mitglieder Stoph und Axen ging, veröffentlicht 'ausweichsitz.de' erstmalig überhaupt (am Ende des Fotoarchives). Deren Quelle saß im Bonner Verteidigungsministerium: Für Dieter Popp war es das Wiedersehen mit Unterlagen, die er vor über 20 Jahren selber kopierte und Richtung Ostberlin versandte. Das Protokoll als Teil einer Zusammenstellung wird mit freundlicher Unterstützung und Zusammenarbeit mit der 'Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen eutschen Demokratischen Republik' veröffentlicht (Archiv der Zentralstelle; MfS Hauptverwaltung Aufklärung Nr. 5, Teil 1 von 2).

Auf die Frage nach seiner Bedeutung als Spionagequelle im "Kalten Krieg" zitiert Dieter Popp sein Gegenüber ab 1991, Bundesanwalt Alexander von Stahl: "Wir seien lange Zeit die Spitzenquellen des militärischen Nachrichtendienstes der NVA gewesen". Wir - das waren Egon Streffer und Dieter Popp. Beide Bundesbürger, ein Tandem als Geheimdienstler und auch privat. Eines ihrer Objekte war der Regierungsbunker in der Eifel. Den haben beide zwar nie betreten, doch waren bestens im Bilde über eine Reihe der darin abgehaltenen WINTEX/CIMEX-Übungen. Und mit ihnen der kleine, aber ausgesprochen effektiv arbeitende Militärische Geheimdienst der Nationalen Volksarmee mit Sitz in Ostberlin. Über eine "Standleitung" gingen diese Unterlagen direkt der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) der DDR-Staatssicherheit zu.

In seiner Bonner Wohnung lebt Dieter Popp seit 1970. Eingezogen ist er in die "Firmenwohnung" als Mitarbeiter des "Deutschen Herold". Popp ist gelernter Versicherungsfachmann und galt unter Kollegen als korrekter, gut arbeitender Mitarbeiter. Über das dienstliche hinaus ist er unter den Bewohnern und ehemaligen Kollegen aus Versicherungstagen im Mehrfamilienhaus auch heute noch geschätzt. Man grüßt sich freundlich und hilft untereinander bei kleinen und großen Dingen des Alltags. Das man es mit einem Vorbestraften zu tun hat, der vier Jahre seines Lebens in vier verschiedenen Gefängnissen zugebracht hat, wissen alle. "Die kannten mich vorher und auch danach", fasst Popp das Miteinander zusammen.

Dieter Popp, Jahrgang 1938, der Top-Agent. Das steht auf einem anderen Blatt. Eines, für das er sich nicht schämt und für das er auch kein Unrechtsbewusstsein entwickeln konnte. "Ich habe das getan, was alle guten Geheimdienstler dieser Erde tun: Sie liefern Informationen für die eigene Seite, die wichtig sind." Sein Motiv? "Es war ein Beitrag für die Stabilität zwischen Ost und West, ein Beitrag für den Erhalt des Friedens. Über 40 Jahre Frieden in Europa - wann hat es das in der Geschichte je gegeben?"

Zusammen mit Egon Streffer, der als Mitarbeiter im Planungsstab des Bundesministeriums der Verteidigung Zugang zu allen sicherheitsrelevanten Akten hatte und sogar über eine Zugriffsbefugnis von Dokumenten des Geheimhaltungsgrades "Streng geheim", "NATO-Secret" und "US-Top-Secret" verfügte, schaffte Mitstreiter Popp als Sachbearbeiter im gleichen Ministerium alles, was wichtig erschien, in Kopie nach Ostberlin. "So schnell, dass dort oft schon ausgewertet wurde, während die Hauspost im Bundesverteidigungsministeriums noch mit dem Verteilen beschäftigt war." 20 Jahre lang, von 1969 bis 1989, funktionierten so "Quelle Streffer" und "Resident Popp". Formal war letzterer für die Führung ersteren eingesetzt. Eine Vielzahl der beschafften Papiere landete direkt als Kopie auf dem Tisch von SED-Chef Honecker.

Ausgerechnet ein "Spionage-Kollege" von Dieter Popp brachte den Bonner auf die Anklagebank. Vorausgegangen war die offizielle Verabschiedung aus Diensten der NVA-Aufklärung. Das war im März 1990. "Ich erhielt die Orden der DDR, die ich zuvor formal erhalten hatte und die in der DDR aufbewahrt wurden. Man bedankte sich für meine Dienste. Es schloss sich eine Rundreise durch südliche Teile der DDR an. Und man informierte uns darüber, daß alle Akten des militärischen Nachrichtendienstes der NVA vernichtet wurden oder werden." Ein Gefühl von Sicherheit, denn so ließ sich handfest nicht belegen, was über Jahre von West nach Ost verbracht wurde. "Ein Trugschluss, wie sich später zeigte". Denn das Misstrauen innerhalb der Staatssicherheit und hier besonders dass von Chef Erich Mielke gegenüber vielen Bereichen war groß genug, um auch über die HVA Daten der Militärspionage sammeln zu lassen. Der ohnehin enge Informationsaustausch hinterlies Spuren, auch über das Jahr 1990 hinaus. Eigentlich sollten auch die gesammelten Werke der Auslandsaufklärung beseitigt werden, denn die HVA war der einzige Bereich innerhalb des Staatssicherheitsapparates, dem eine Selbstabwicklung zugestanden wurde. So wurde kräftig geschreddert und verbrannt, noch bis ins Jahr 1991 hinein. Wer heute an entsprechende Archive entsprechende Nachfragen stellt, wird mit eben jener Aussage konfrontiert. Doch nicht alles im Reich der Staatssicherheit lief 100-prozentig nach Plan.

Für Dieter Popp bedeutete das, nicht nur durch einen ehemaligen Mitstreiter verraten worden zu sein, sondern durch sein eigenes Schaffen der Vergangenheit im Hier und Jetzt der Anklage belastet zu werden. "Woher die Akten kamen, weiß ich nicht. Sie waren da und Generalbundesanwalt von Stahl freute sich darüber." Egon Streffer entging diesem Kapitel eines Geheimdienstlerdaseins, denn der Mann aus dem Bundesverteidigungsministerium starb im Herbst 1989 im Schweizer Urlaub. Popp war schließlich einer von 2926 angeklagten Westdeutschen, der aber im Gegensatz zu den meisten seiner Ostberliner Abnehmer verurteilt und hinter Gitter musste. "Man behandelte uns tatsächlich wie Schwerverbrecher, wollte ausschließen, das wir zusammen einsaßen. Ich weiß nicht, wovor man sich noch fürchtete. Das alles war vorbei."

Was kam, war die Verständigung nach der Haftstrafe untereinander, sich mit dem erkanntem Unrecht nicht abzufinden. "Der Vorwurf der Spionage für eine fremde Macht war absurd, denn die BRD hat die DDR als Staat nie anerkannt. Also gab es auch keine fremde Macht, an die wir Informationen weitergeben konnten und damit keine begründete Anklage." Mit 60 der "zu Unrecht" Verurteilten gründet Dieter Popp einen Verein und geht gerichtlich durch mehrere Instanzen, um rehabilitiert zu werden. Selbst die UNO wird bemüht, lehnt aber in drei Zeilen das Ansinnen ab.

Was bleibt, ist der Kampf für eine Wiederaufnahme des Verfahrens und die Erinnerung an vergangene Kundschaftertage. Letztere werden mit Sicherheit mehr Stoff zum Lesen geben und der Nachwelt manch überraschendes Moment verschaffen. Umfang und Präzision der WINTEX/CIMEX-Papiere beeindrucken - selbst und gerade von einem neutralen Standpunkt aus. Es gibt detaillierte Einblicke in das Szenario des atomaren Krieges über Europa, Beschreibungen der auslösenden Krisenherde bis hin zu seitenweisen Namenslisten der beteiligten Einrichtungen inklusive Personenstärke. Zwischen 1979 und 1985 lieferten Streffer und Popp Informationen aus erster Hand über den Alltag der Stabsübungen im Regierungsbunker Marienthal. "Besonders an die Szenarien 1979 mit dem Angriffsziel Balkan und 1985, als die Sowjetunion im Fokus der westlichen Angriffsbemühungen stand, kann ich mich sehr gut erinnern. Vorgeschoben wurde immer ein Verteidigungsfall der NATO, die dann aber als erste übungshalber zum Einsatz atomarer Waffen griff".

Sein Meisterstück, sagt Dieter Popp ohne jede Dramatik, sei aber der Verrat der westlichen Verhandlungsposition vor der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 gewesen. "Der Ostblock fuhr hin und wusste ganz genau, wie weit der Westen gehen würde." Einblicke in Strategiepapiere des Westens im Umgang mit dem Osten waren es schließlich auch, die Dieter Popp bereits lange vor dem Mauerfall im November 1989 den Zusammenbruch des Ostblocks vermuten ließen. "Wir haben bereits ein Jahr vorher deutlich gespürt, daß hier was im Gange ist. Heute glaube ich, dass bereits 1986 mit der Konferenz von Reykjavik das Ende der Ost-West-Konstellation beschlossene Sache war. Spätestens auf der Konferenz von Malta im Dezember ´89 hatte Gorbatschow das ganze Imperium verscheuert."

Jenseits politischer Konstellationen interessierte den Geheimdienstler immer die eigene Rolle wie auch die eigentlich konkurrierender Dienste im "kalten Krieg". "Auch die westliche Spionage hat entspannend gewirkt", sagt Popp heute und erinnert sich an ein Treffen von KGB-Leuten, CIA-Mitarbeitern und welchen aus Ost- und Westdeutschland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. "Hier war man sich einig, dass alle etwas für die Entspannung geleistet haben". Ein Gleichgewicht und das Wissen, was der andere kann und will, seien Ergebnisse der "aufklärenden Arbeit" gewesen - und damit konnten alle recht gut leben. Schließlich sei auch der Regierungsbunker im Ahrtal Bestandteil dieses Systems gewesen.

"Die haben alles gewusst und doch verloren", lautet heute die schlichte Erkenntnis von Dieter Popp, der als Rentner nicht nur die Internetseiten der von ihm gegründeten Initiativgruppe "Kundschafter des Friedens fordern Recht e.V." betreut, sondern sich auch als Mitautor in Bücher zur Geschichte der DDR-Auslandsaufklärung einbringt. Seine Art, Vergangenheit aufzuarbeiten. Fertig ist er damit noch lange nicht.